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Rückblick: Runder Tisch in Berlin zu Arbeit als Generationenthema

Vor einigen Wochen hat unser dritter runder Tisch zu Arbeit als Generationenthema im Berlin Global Village mit der Moderation von Hannah Knox stattgefunden. Hannah stellte dabei fest: „Wenn überhaupt kommen ältere Migrantinnen nur als Fußnote vor“.

Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrung sind im Ankunftsland nicht nur mit der neuen Orientierung und Verarbeitung von Trauma beschäftigt, sondern müssen sich mit mehreren Hürden auseinandersetzen: Aberkennung von Abschlüssen aus dem Herkunftsland, Zugangsbarrieren zu Informationsquellen, fehlende interkulturelle Öffnung der Behörden, strukturelle und institutionelle Benachteiligung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie z.B. Teilzeitbeschäftigung, Minijobs, undokumentierte Arbeit und damit verbundene Lohnungleichheiten, ein höheres Gewaltrisiko in beruflichen Kontexten, niedrigere Rente und Altersarmut. Arbeit ist für alle Generationen von migrierten und geflüchteten Frauen ein Thema, weil viele Frauen aufgrund diverser Barrieren keine Zugänge dazu finden. Insbesondere ältere Frauen sind allerdings stark davon betroffen, weil sie an der Schnittstelle vom Frausein, Fluchterfahrung und Alter mehrfach diskriminiert werden. Zu diesem Runden Tisch sollten die Gesprächspartner*innen, darunter Politiker*innen, Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft und Projektarbeit, sowie Betroffene, ihre Perspektiven, Erfahrungen und Positionen in den Austausch bringen und offen miteinander reden, damit ein gemeinsamer Begegnungsraum geschaffen werden kann.

Die Runde reflektiert gemeinsam:

Die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit und mangelnde Möglichkeiten diese auszugleichen ist ein massives Problem, da Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, kranke oder ältere Familienmitglieder oft unsicher sind und sich die Sprachkenntnisse vieler Frauen deswegen auch nur sehr langsam verbessern, da sie in Familienstrukturen eingebunden sind und wenig Austausch haben. Das Grundeinkommen ist auch hier eine wertvolle Idee, da sie soziale Arbeit und Reproduktion, die sowieso geleistet wird, honorieren kann.

Fr. Tradt von „Stark im Beruf“ weiß außerdem: „In der älteren Generation von Frauen existiert eine große Traurigkeit darüber nie flächendeckend Deutsch gelernt und geübt zu haben.“ Teilweise wissen Menschen nicht ausreichend über ihre Rechte hinsichtlich Versicherungen Bescheid und nehmen deswegen keine Rehaangebote wahr betont Abdoul von move global e.V.. Er berichtet davon, wie der Anstoß zur Selbsthilfe und der reine Austausch schon als Wertschätzung der eigenen Person wahrgenommen werden kann, weil man merkt: hey, ich bin nicht alleine, es geht mehr Menschen so und wir können uns gegenseitig unterstützen. Außerdem sieht Abdoul die Bemühungen für soziale Teilhabe und Gerechtigkeit als wechselseitige Prozesse: „Es ist keine Einbahnstrasse und wird Zeit, dass wir die Frage nach der Zukunft selbstständig entwickeln.“

Isabel Alonso von La Red, einer Stelle die sich auf Anerkennungen spezialisiert hat berichtet, dass die Frauen unterschiedliche Barrieren haben, aber Anerkennung eine große Hürde ist, weil viele der Frauen mit vielen Problemen in Deutschland ankommen und nicht nur sozial, sprachlich und kulturell neu starten müssen, sondern eine neue Arbeit zu erlernen oder zu finden kommt extra dazu. Eine Psychologin, die 50 ist und neu anfangen muss, da könne man sich fragen: welche Möglichkeiten existieren denn real für sie ? Die Frauen aus dieser Altersklasse erfahren eine riesige Frustration, die sich in Depressionen wiederfinden können. Mousa Alzaeem, Sozialarbeiter und Autor ist auch eingeladen und fasst seine Erfahrung so zusammen: „Ich bringe 22 Jahre Arbeitserfahrung als Lehrer mit und hatte große Schwierigkeiten hier Arbeit zu finden. Neben ihm sitzt Dr. Najad Abed Alsamad, Gynäkologin aus Syrien, deren Erfahrung stellvertretend für die vieler Frauen steht, da sie trotz ihrer akademischen Abschlüsse massiv in ihrem Berufsleben eingeschränkt ist. Sie hat in der Ukraine ihr Medizinstudium absolviert und in Syrien ihren Facharzt zur Gynäkologin gemacht. Seit 5 Jahren ist sie jetzt in Deutschland und bemüht sich um ihre Approbation. Die ersten beiden Jahre war sie hauptsächlich mit Deutsch lernen beschäftigt und hat dann die Fachsprachen- und Kenntnisprüfungen abgelegt und bestanden. Um als Arzt/Ärztin mit einer ausländischen Qualifikation in Deutschland tätig sein zu können, wird eine staatliche Zulassung benötigt. Dabei kann es sich um eine „Approbation“ oder eine „Erlaubnis zur vorübergehenden Berufsausübung“ (Berufserlaubnis) handeln. Ein abgeschlossenes Medizinstudium aus dem Ausland oder eine ausländische Berechtigung, im Herkunftsland als Arzt/Ärztin praktizieren zu dürfen, reichen nicht aus, um in Deutschland als Arzt/Ärztin arbeiten zu können. Die Approbation ist unbefristet und bundesweit gültig, die Berufserlaubnis gilt nur für 2 Jahre und ist an das jeweilige Bundesland gebunden. Bei der Berufserlaubnis ist die Ausübung des Berufs ist nur unter Aufsicht eines approbierten Arztes gestattet und ist teilweise nur auf gewisse Tätigkeiten beschränkt. Najad erzählt weiter, dass sie nach vielen Anläufen und dem Einschicken ihrer Dokumente ins Jobcenter gehen musste, wo ihr Fall unter anderem aufgrund von drei Sachbearbeiterinnenwechseln immer wieder von vorne neu diskutiert wurde und sie sich nicht gut betreut gefühlt hat. Zudem ist der Gang zum Jobcenter als hochqualifizierte Frau, die nicht das Gefühl hat, dass ihre Qualifikationen ernst genommen werden oder ein Weg gesucht wird, wie sie ebendiese vernünftig einsetzen kann voller Scham. Sie hat nun eine Berufserlaubnis, aber nur für 2 Jahre und hat wenig Verständnis dafür. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Approbation, die zur selbstständigen Ausübung des Berufs berechtigt braucht man in Deutschland ein abgeschlossenes Medizinstudium aus einem Land der EU, des EWR, der Schweiz oder eines dem deutschen gleichwertigen Studiums aus einem Drittstaat oder eine erfolgreich absolvierte Kenntnisprüfung in Deutschland. Najad hat in der Ukraine studiert und ihre Kenntnisprüfung abgelegt und berichtet davon, dass Krankenhäuser und Praxen ungern Ärzt*innen einstellen, die nur eine Berufserlaubnis vorweisen können. Sie blickt mit viel Unverständnis auf Ärzt*innen und andere Fachbereiche, die jetzt im Zuge des Kriegs der Ukraine nach Deutschland flüchten und mit anderen Zugängen belohnt werden. Sie übt auch große Kritik an dem Selbstverständnis von Muttersprachlerinnen. Sie hat den Eindruck, dass die Mehrheitsgesellschaft hier denkt „wenn jemand schwache Deutschkenntnisse hat, bedeutet es, dass diese Person niedrigqualifiziert ist“.

Viele Frauen aus der Runde schütteln den Kopf und zeigen sich sowohl bewundernd für das Durchhaltevermögen von Najad, aber auch sehr irritiert, da sie wissen, dass die Frauen mit denen sie arbeiten einen extremen Bedarf an beispielsweise arabischsprachigen Gynäkologinnen haben.

Hakan Demir, der Bundestagsabgeordnete der SPD für Neukölln schließt sich an und weist auf den blinden Fleck des Bleiberechts und der Duldungen hin. Für ältere Frauen besteht hierbei die Gefahr, dass sie keine eigenen Aufenthaltstitel haben und der Gefahr von Abschiebung ausgesetzt sind, wenn ihre Männer im Alter sterben. Im Falle der Istanbul-Konvention sind geflüchtete Frauen zusätzlich aufgrund des Vorbehalts zu Artikel 59 nicht ausreichend vor Abschiebung geschützt, wenn sie Gewalt zum Beispiel zur Anzeige bringen – alles eine Frage des politischen Willens macht Juliane Fischer-Rosendahl, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte für Spandau, klar. Sie gesteht selbstkritisch ein: „Die Gremien und institutionellen Orte, in denen ich unterwegs bin sind genau wie die meisten Verwaltungen sehr weiße Orte und die Frage, die ich mir und anderen immer wieder stelle ist: „Was können wir schaffen und wie können wir das ändern?“

Muna Naddaf und Leyla Celik von den Stadtteilmüttern aus Neukölln stellen fest: Den Menschen fehlt die Teilhabe an der deutschen Sprache und Gesellschaft – auch, weil Arbeit und Begegnungsräume fehlen. „Die Jobs, die man den Frauen anbietet sind oft Jobs, die gerade akut gefragt sind, nicht das, was den Fähigkeiten der Frauen entspricht. Es fehlt auch an erleichterten Zugängen und Therapeutinnen, die mehrfach diskriminierten und oft sehr erschöpften Menschen unter die Arme greifen. Fr. Fischer bestätigt den Eindruck und erzählt von einer einzigen Farsi sprechenden Psychologin, die den realen Bedarf niemals abdecken kann und die sie selbst in ihrer Arbeit ausbrennen sieht. Mangelnde Beratungen und Therapie führen neben dem gesellschaftlichen Druck verschiedene Rollen immer gut erfüllen zu müssen – Frau, Mutter, berufstätig – zu psychischen und gesundheitlichen Problemen, Alkoholmissbrauch und Medikamentenabhängigkeiten. Leyla und Isabel Alonso von La Red e.V. sprechen fast zeitgleich etwas an, das viele im Raum kopfnickend bestätigen: „Die Deutschkurse müssen sich ändern.“ Fr. Fischer pflichtet in Bezug auf Deutschkurse, aber auch Weiterbildungsangebote bei: „Das ist das große Problem der Berliner Politik, dass die Leute die Angebote teilweise nicht wahrnehmen können.“ Ein, zweimal im Monat für ein bis zwei Stunden Themen angehen vor allem nur theoretisch bringt weder kurz- noch langfristig etwas. Die Kurse werden als verfehlt wahrgenommen und die Konstellation der Menschen, die dort zusammen lernen sollen als nicht zielgerichtet oder bedürfnisorientiert. Teilweise kommen ältere Menschen nicht mit derselben Geschwindigkeit, wie Jüngere hinterher.Nicht nur auf die formellen Qualifikationen schauen, sondern jede Frau auch als Einzelperson begreifen und intensiv kennenlernen und verstehen, dass sie doppelt und dreifach die Belastung erfahren, denen Männer, die hier neu ankommen ausgesetzt sind – das sei vonnöten.

Die Gruppe unterhält sich dann noch darüber, dass die IHK gemeinsam mit der Agentur für Arbeit Mitte Oktober eine Jobmesse „das Ankommen aller Geflüchteten in Berlin“ unterstützt, aber nur Sprachmittlerinnen auf Ukrainisch oder Russisch vor Ort unterstützen. Für andere Sprachen müssen die Unternehmen sich selbst um Übersetzung kümmern – ähnlich wie beim Berufsanerkennungsfall von der syrischen Frauenärztin stellt sich hier die Frage nach Fokus und blinden Flecken und inwiefern blanker Rassismus dabei eine Rolle spielen.

Wir wissen, dass Selbstbestimmung und Bildung Menschenrechte sind und der Austausch mit migrierten und geflüchteten Frauen zeigt immer wieder, wie oft diese Rechte in weiter Ferne für sie sind. Wir hoffen, dass die regionalen Austäusche zumindest Veränderungen und Impulse anstoßen die sozial und vor allem politisch weitergetragen werden müssen, aus dem runden Tisch ins halbrunde Parlament hinein.

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