Theorie ist nicht Praxis – ein Rückblick auf die Veranstaltung „5 Jahre Istanbul-Konvention in Deutschland: Wie garantieren wir effektiven Schutz für gewaltbetroffene geflüchtete Frauen?“
Migrantinnen sind in größerem Maße Gewalt ausgesetzt, und noch prekärer ist oft die Situation von geflüchteten Frauen und Mädchen. Daher gibt es im Kapitel VII (Asyl und Migration) Art. 59 bis Art. 61 der Istanbul-Konvention (IK) spezifische konkrete Schutzmaßnahmen für diese Gruppe. Auch der Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung aus 2021 versprach eine ressortübergreifende politische Strategie gegen Gewalt zu entwickeln, die Gewaltprävention und die Rechte Betroffener in den Mittelpunkt stellt. Dazu wollte die Regierung die IK vorbehaltlos und wirksamer umsetzen. Doch in Widerspruch zur Umsetzung der IK unterstützte die deutsche Bundesregierung die Pläne für eine Reform des europäischen Asylsystems des EU-Rats am 8. Juni 2023, welche die Menschenrechte von Geflüchteten und dabei besonders von vulnerablen Gruppen wie asylsuchenden Frauen und Mädchen mehr oder minder hebeln.
In Anbetracht dieser entgegengesetzten Entwicklungen organisierte DaMigra am 14. Juni 2023 einen interdisziplinären Expertinnen-Tisch zum Thema „5 Jahre Istanbul-Konvention in Deutschland: Wie garantieren wir effektiven Schutz für gewaltbetroffene geflüchtete Frauen?“ mit der Teilnahme von diversen Vertreter*innen aus engagierten Migrantinnenselbstorganisationen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Juristinnen.
Die Veranstaltung fokussierte sich auf Artikel 60 & 61 der IK und die spezifischen Schutzmaßnahmen für Migrantinnen und Geflüchtete, die in der IK verankert sind. Artikel 60 und 61 der IK regeln das Verbot der Zurückweisung Schutzsuchender (61) und legen fest, dass in Vertragsstaaten Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als Asylgrund bzw. Grund für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz gilt (60).
Es arbeitete sich erneut heraus dass trotz dem Versprechen des Koalitionsvertrages die Schutzmaßnahmen der IK noch nicht wirksam umgesetzt werden, bspw. fehlen noch immer:
- ein ausreichendes, flächendeckendes Hilfe und Unterstützungssystem für gewaltbetroffene Frauen
- ein systematisches Konzept zur Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Personen
- eine unabhängige Asylverfahrensberatung
- geeignete Schutzräume für besonders vulnerable Gruppen
Zudem existiert trotz IK in Deutschland noch immer eine sehr geringe Asylanerkennung aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung – obwohl die kontinuierliche Zurückweisung von Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt einen Verstoß gegen Artikel 61 der IK darstellt.
Andrea Kothen (ProAsyl) gab einen starken Impulsvortrag zu Artikeln 60 & 6 IK und deren Verbindung zu der Einigung des EU-Rates auf eine gemeinsame Asylpolitik am 08. Juni 2023. Andrea Kothen gab Einblicke in die folgenden Themenbereiche, welche für Geflüchtete noch immer große Barrieren beinhalten, und nur einige Beispiele sind:
- unsichere Unterbringung
- wenige Frauenhäuser und die Wohnsitzauflage
- ein Flickenteppich an Identifizierungsverfahren in den Bundesländern
- mangelnde Gesundheitsversorgung in Aufnahmeeinrichtungen
- fehlender Zugang zu Unterstützungsstrukturen,
- mangelnde Anerkennung von Asyl aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung
Hier fokussierte sich die Veranstaltung weiterhin auf das geplante „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS) und die Probleme, die es mit sich bringen könnte. Die geplante GEAS-Reform sieht unter anderem Lager an den EU-Außengrenzen, starke Grenzverfahren und somit fast eine fiktive Nichteinreise, Abschiebung in „Sichere Drittstaaten“, eine Verschärfung des Dublin Systems; mehr Definitionen „sicherer Herkunftsstaaten“, starke Grenzkontrollen, monatelange Abschiebungshaft und Durchsuchungsrechte der Polizei vor.
Falls diese Reform nicht verändert oder verhindert wird, werden Geflüchtete oftmals nicht die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen – insbesondere geschlechtsspezifische Verfolgung – in Asylverfahren einzubringen können. Hierauf aufbauend teilte sich die Veranstaltung in zwei Workshops, welche zu Artikel 60 IK – Asylanträge aufgrund des Geschlechts und Artikel 61 IK – Verbot der Zurückweisung Handlungsempfehlungen ausarbeiteten.

Um die mangelnde Anerkennung geschlechtsspezifischer Asylanträge (IK Artikel 60) zu verbessern erarbeiteten die Teilnehmenden die folgenden Handlungsempfehlungen:
- Standardisierte, bürokratisch-einheitliche und bundesweit-einheitliche Verfahren der Identifizierung von Bedarfsdeckung bei Vulnerabilität
- staatlich unabhängige Asylverfahrensberatung
- bessere Finanzierung von Fachstellen
- systematische Zusammenarbeit und Kommunikation der zuständigen Behörden mit nicht-staatlichen Stellen und die Anerkennung deren Einschätzungen
- Bessere, einheitliche Umsetzung von bestehenden Richtlinien
- Orientierung an Modellverfahren
- die Stärkung und Anerkennung von Fachberatungsstellen und deren bestehender Expertise.
Um das Verbot der Zurückweisung (IK Artikel 61) weiterhin umsetzbar zu gestalten erarbeiteten die Teilnehmenden die folgenden Handlungsempfehlungen:
- die gesellschaftliche und politische Grundhaltung gegen jegliche Zurückweisung von Geflüchteten zu fördern
- Institutionelle und strukturelle Änderungsempfehlungen wie obligatorische Schulungen mit wissenschaftlicher Evidenz zu ermöglichen
- Zivilgesellschaftliche Akteur*innen als Expert*innen und Kooperationspartner*innen wahrzunehmen
- die Implementierung unabhängiger Datenerfassung zu ermöglichen
Wir freuen uns sehr, dass über 25 Teilnehmende mit diversen Schwerpunkten und inhaltlichen Fähigkeiten zusammengekommen sind.
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