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Endlich gilt die Istanbul-Konvention vorbehaltslos! Nun auf zur vollständigen Umsetzung – wenn nicht jetzt, wann dann?

Berlin, 01. Februar 2023. Heute vor fünf Jahren trat „Die Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – die Istanbul-Konvention (IK), in Deutschland in Kraft. Wir gratulieren zu fünf Jahren geltenden Rechts im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen. In Anbetracht rechtskonservativer und fundamentalistischer Bewegungen, die Frauen- und Menschenrechte weltweit bedrohen, müssen wir gemeinsam noch stärker auf die Umsetzung von Menschenrechtskonventionen beharren. Ein Rückblick und ein Ausblick auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention aus feministischer, antirassistischer und intersektionaler Perspektive.

Die Istanbul-Konvention (IK), die 2011 von 46 Mitgliedsstaaten des Europarates erarbeitet wurde, ist für alle Staaten, die sie unterzeichnet und ratifiziert haben, geltendes Recht. Stand heute haben 36 der 46 unterzeichnenden Staaten die IK ratifiziert und inzwischen sind auch Länder wieder ausgetreten, wie die Türkei im Sommer 2021. Leider gehört auch immer noch die Europäische Union nicht zu den Unterzeichnenden, da fundamentalistisch konservative Staaten die Unterzeichnung der IK immer wieder blockieren.  Das zeigt, wie der Einsatz für die Rechte von Frauen in den vergangenen Jahren wieder schwieriger geworden ist. Ziel der IK ist, jeder Frau und jedem Mädchen ein gewaltfreies Leben zu ermöglichen und die Gleichstellung der Geschlechter sicherzustellen. Sie legt einen Fokus auf Gewaltprävention, Gewaltschutz, Strafverfolgung und umfassende Verpflichtungen zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt auf staatlicher Ebene. Die IK ist einzigartig darin, diese Maßnahmen ineinandergreifend zu gestalten, um Betroffene aktiv zu schützen. Zudem schreibt die IK der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zu und erkennt die Rolle von Frauenrechtsorganisationen im Bereich Gewaltschutz aktiv an. Doch ein unterschriebenes Dokument ist zunächst einmal Papier, und Papier ist geduldig, wie wir alle wissen.  Erst wenn der Staat und seine Institutionen dieses Recht tatsächlich umsetzt, d.h. alle notwendigen Schritte unternimmt, wird aus der Theorie eine gute Praxis.

Worauf schauen wir nach fünf Jahren Istanbul-Konvention in Deutschland zurück? Entwicklungen, Auswirkungen und Kritik

Seit 2018 gilt die IK als Bundesgesetz in Deutschland und wurde als bedeutsamer Meilenstein im Einsatz gegen Gewalt an Frauen von Zivilgesellschaft sowie Politik begrüßt. Obwohl es einige positive Entwicklungen in der deutschen Gesetzgebung seit der Ratifizierung der IK gibt, ist die Umsetzung der Konvention im Allgemeinen weiterhin mangelhaft. Dies ist beispielsweise daran zu erkennen, dass wir erst seit 2016 das Gesetz „Nein heißt Nein“ haben, welches überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, um die Istanbul-Konvention auch für Deutschland zu ratifizieren. Andere europäische Länder rücken auch hier zum Beispiel stärker die Perspektive und den Willen der Frau in den Vordergrund und haben ihr Sexualstrafrecht dahingehend reformiert, dass nicht die Frau mit „Nein“ als passives Objekt reagieren muss, sondern selbst proaktiv mit einem „Ja“ ihre Einvernehmlichkeit verdeutlicht. 

Aber das Gute zuerst. Deutschland hat in der Umsetzung der IK bereits einiges erreicht: Der größte positive Schritt in der Umsetzung der Istanbul-Konvention folgt heute. Die Vorbehalte gegen Artikel 44 und Artikel 59 Abs.2&3 werden auf Bundesebene endlich fallen gelassen! Gerade Artikel 59 für ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht war und ist nach wie vor für viele migrierte Frauen, die im Zuge des Familiennachzuges nach Deutschland kamen und kommen, enorm wichtig. Dieser Artikel ist es, der ihnen ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht ermöglicht und damit zumindest formell einen Zugang zu umfassendem Schutz bietet. Wie das konkret aussehen wird, welche Schritte die Bundesregierung für den umfassenden Schutz aller Frauen ergreifen wird, das wird die Praxis zeigen. Denn auch hier zeigt uns ein kritischer Blick, dass politische Handlung und politischer Wille nicht immer das gleiche bedeuten. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurde eine vorbehaltlose Umsetzung der IK angekündigt. Aber Vorbehalte laufen fünf Jahre nach der Einlegung automatisch aus, wenn der Vertragsstaat diese nicht erneut verlängert und begründet. Das heißt realistisch, dass die Bundesregierung nicht aktiv die Arbeit leistet, die Vorbehalte zurückzunehmen, sondern eigentlich die Vorbehalte einfach nicht verlängert.

Weitere Fortschritte auf der Bundesebene sind die Errichtung einer Berichterstattungsstelle, welche am Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt ist, und zumindest sind wir auf dem Weg, auf Bundesebene eine Koordinierungsstelle der IK einzurichten, welche sich am Bundesfamilienministerium angliedern würde. Zudem gibt es auch Fortschritte einzelner Bundesländer, in denen Koordinierungsstellen, Berichterstattungsstellen, Landesaktionspläne und Maßnahmen ergriffen und eingerichtet wurden.

Das sind gute Fortschritte, aber auch fünf Jahre nach Inkrafttreten der IK fehlt in Deutschland eine ressortübergreifende Gesamtstrategie, handlungsfähige Institutionen und die notwendigen Ressourcen, um das Recht aller Frauen und Mädchen auf ein gewaltfreies Leben umzusetzen. Insbesondere für Gruppen, wie Frauen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte, mit Behinderungen, diversen geschlechtlichen Identitäten oder in Wohnungslosigkeit, ist der in der Konvention verankerte Zugang zu Prävention, Schutz, Beratung und Recht nach wie vor mangelhaft. Die IK verpflichtet die Vertragsstaaten, die Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt sicherzustellen – daran wie effektiv und betroffenheitssensibel sie es umsetzt, wird die Bundesregierung gemessen.

„Wenn die Vorbehalte jetzt fallen, dann fängt die Arbeit erst richtig an. Ab jetzt müssen wir schauen, welche Gesetze wir ändern müssen und wo der Staat noch Barrieren und Restriktionen fallen lassen muss, so wie die Istanbul-Konvention es fordert – um wirklich jede Form von Gewalt gegen ALLE Frauen effektiv zu stoppen!“, so Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin von DaMigra e.V. und Bündnisrätin vom Bündnis Istanbul-Konvention.

Auch der GREVIO[1] Bericht, der im Oktober 2022 vom Europarat eingereicht wurde und evaluiert, wie Deutschland die Vorgaben der Istanbul-Konvention bereits umgesetzt hat und wo noch Handlungsbedarf besteht, kritisierte Deutschland. Es wurde insbesondere hervorgehoben, dass vulnerable und verletzliche Gruppen, wie Frauen mit Behinderungen, geflüchtete Frauen oder queere Menschen kaum berücksichtigt werden. Das zeigt sich in den Vorbehalten gegen Art. 59 – der Artikel, der gewaltbetroffenen Frauen einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig vom Ehemann gewährt. Die bestehenden Vorbehalte und die mangelhafte Umsetzung der IK haben in den letzten Jahren also Migrantinnen und geflüchtete Frauen effektiv vom Gewaltschutz eingeschränkt und ihnen den Zugang zu Hilfsstrukturen beschränkt. In der Realität sieht das also so aus, dass Frauen aufgrund von finanziellen oder rechtlichen Abhängigkeiten gezwungen werden, mit Gewalt und Missbrauch zu leben, weil ihnen sonst eine Abschiebung drohen kann. Wenn eine Gesellschaft besonders vulnerable Gruppen nicht schützt – insbesondere die, denen laut IK besonderer Schutz gewährleistet werden sollte – ist das absolut inakzeptabel und diskriminierend und sollte auch als solches klar benannt werden.

Denn Vorbehalte generell, egal welcher Natur, schwächen immer die entsprechende Konvention und verwässern damit ihren Kern. Umso mehr freut es uns, dass Deutschland die Vorbehalte gegen die IK nun fallen gelassen hat. Denn obwohl wir in den letzten fünf Jahren einige Fortschritte sehen, fehlt es in vielen Bereichen an konkreten Umsetzungen. In Deutschland laufen wir den Marathon in der Bekämpfung gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen noch in Kinderschuhen. Weder haben wir eine einheitliche Definition von Gewalt oder Gewaltformen noch eine bundesweite Gesamtstrategie, welche die Unterschiede der Betroffenheit verschiedener Gruppen mit einbezieht. Die Verantwortlichen für die Umsetzung der IK in Deutschland müssen vor allem endlich realisieren, dass strukturelle Barrieren und institutionelle Diskriminierungsstrukturen uns unterschiedlich treffen und dass es in der Verantwortung des Staates liegt, diese Barrieren intersektional zu bekämpfen und aufzuheben.

DaMigra e.V. ist die Interessenvertretung von Migrantinnenselbstorganisationen und ihren Belangen und setzt sich für Chancengerechtigkeit, gleichberechtigte Teilhabe und für die Gleichstellung von Frauen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung in Deutschland ein. DaMigra verfolgt den Ansatz des Antirassistischen Feminismus.


[1] GREVIO: der Monitoring-Mechanismus des Europarats, die “Group of experts on action against violence against women and domestic violence”.

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