Schon wieder ein Femizid! Schon wieder versagt das Schutzsystem
Weckruf
Deutschland übernimmt ab dem 1. Juli für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Im Zuge dessen fordert DaMigra die Bundesregierung dazu auf, endlich lange beschlossene Maßnahmen konsequent umzusetzen und sich dem Schutz ALLER Frauen* zu widmen.
Geschlechtsspezifische Gewalt ist tödlich. Femizide haben ein System. Femizide sind keine Privatangelegenheiten!
Im Programm Deutschlands zur EU-Ratspräsidentschaft heißt es: „Um Frauen auch in Krisenzeiten besser gegen Gewalt zu schützen, werden wir uns weiter für die Ratifikation der Istanbul-Konvention des Europarats durch die EU und aller Mitgliedstaaten einsetzen. Wir werden in unserer Präsidentschaft für den europaweiten Ausbau und Zugang zu Schutz und Beratung werben“.
Wir nehmen Euch beim Wort. Wir Frauen* mit Migrations- und Fluchtgeschichte erwarten, dass Deutschland die Istanbul-Konvention vorbehaltlos, konsequent und für ALLE Frauen* und Mädchen* umsetzt!
Leilo Said Farah sehnte sich nach einer Wohnung, nach Privatsphäre und nach Sicherheit. Normalität, die für die meisten Menschen selbstverständlich ist: morgens unter die Dusche gehen zu können oder auf die Toilette, ohne Angst, dabei von einem fremden Menschen „überrascht“ und sexuell belästigt zu werden. In Gemeinschaftsunterkünften haben Frauen* und Mädchen* diese ganz normale Privatsphäre nicht. Waschräume und Toiletten müssen sie mit anderen teilen, es gibt kaum Rückzugsmöglichkeiten. Das alltägliche Leben findet auf engstem Raum statt – Gewalt und sexualisierte Gewalt sind Teil der Realität vieler geflüchteter Frauen* und Mädchen*.
Leilo Said Farah floh vor Gewalt aus ihrem Heimatland und hat in Deutschland nach Schutz gesucht. Sie musste in einer Unterkunft leben, in der sie keinerlei Privatsphäre hatte geschweige denn Schutz. Sie war eine der wenigen, die über ein Resettlement-Programm nach Deutschland kommen können – somit war sie besonders schutzbedürftig. Das Asylgesetz verpflichtet Frauen* und Mädchen* dazu, in Gemeinschaftsunterkünften zu leben und ihre kaum vorhandene Privatsphäre auf engstem Raum zu teilen. Das macht Sammelunterkünfte für geflüchtete Frauen* und Mädchen untragbar, denn in dieser Position sind sie besonders verletzlich. Leilo Said Farah suchte lange vergebens nach einer Wohnung. Trotz eines gültigen Aufenthaltstitels war sie gezwungen, in einer Unterkunft für Asylsuchende zu wohnen. Leilo Said Farah wurde ermordet, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte.
Femizide sind keine „Beziehungsdramen“.
Berichterstattungen zufolge wurde am Morgen des 21.06.2020 die 36-jährige Leilo Said Farah, Bewohnerin einer Geflüchteten-Unterkunft in der niedersächsischen Stadt Cloppenburg, von ihren 19jährigen Partner ermordet. Der mutmaßliche Täter, der nicht in der Unterkunft wohnte, wurde von der Polizei festgenommen. Den Berichten zufolge soll ein Streit der Tat vorangegangen sein. Die Stichverletzungen der Frau waren so schwerwiegend, dass sie trotz Rettungsmaßnahmen noch vor Ort verstarb. Medienberichte suggerieren: es handelte sich um ein „Beziehungsdrama“.
DaMigra und ihre Mitgliedsorganisationen sagen: Es war ein Femizid. Femizide haben weltweit System. Sie sind Teil der gesellschaftlichen Realität, in der wir alle leben. Medienberichte, die Femizide als „Beziehungsdramen“ beschreiben, sind Teil des Problems. Es ist kein Einzelfall, wenn eine Frau* von ihrem Partner ermordet wird. Es ist kein „Beziehungsdrama“, wenn eine Frau* ermordet wird, weil sie selbstbestimmt leben möchte.
Es sind keine Einzelfälle, wenn Männer über Frauen* verfügen wollen und es nicht ertragen können, wenn die Frauen* ihr Leben in Unabhängigkeit und in Selbstbestimmung führen wollen und sie dafür erniedrigen, verfolgen, erschlagen, vergewaltigen und ermorden. Femizide – oft beschrieben als Morde aus verletzter „Ehre“ oder aus „Eifersucht“ und „Verschmähter Liebe“ – sind ein globales Problem. Dahinter steht ein globales System, das sich durch alle Kulturen, Ethnien, soziale Schichten und Religionen zieht. Wir leben immer noch unter patriarchalen Machtstrukturen und Hierarchien, die Frauen* und Mädchen* unterdrücken. Weltweit, Europaweit, Deutschlandweit.
Solange Medien, wie auch im Fall von Leilo Said Farah, durch unkritische Berichterstattung Femizide als „Beziehungsdramen“ framen, die Tat „kulturalisieren“ und „ethnisieren“, verschleiern sie die gesamtgesellschaftliche Dimension einer solchen Tat. In dem wir da mitmachen, erklären wir eine solche Tat zu einer Privatangelegenheit, die die Öffentlichkeit nichts angeht und zu deren Verhinderung sie nichts beitragen kann. Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* und Femizide sind die schrecklichen Produkte patriarchalen Denkens und Handelns. Die Kulturalisierung, Ethnisierung und Privatisierung von Femiziden verhindert, dass Frauen* und Mädchen* gleichberechtigt, in Sicherheit und selbstbestimmt leben können. Jeden dritten Tag sterben Frauen*, weil sie von ihren Partnern ermordet werden.
Veränderung können nur durch Aktion geschehen.
Es braucht den Aufschrei der Gesamtgesellschaft, damit auch die Politik hinhört: Die Istanbul-Konvention muss vorbehaltlos und konsequent umgesetzt werden, damit endlich Schutzmaßnahmen für alleinstehende und alleinerziehende, geflüchtete Frauen* deutschlandweit und bundesweit eingeführt, konsequent und vorbehaltlos für ALLE Frauen* und Mädchen*, unabhängig des Aufenthaltsstatus, umgesetzt werden.
Die Istanbul-Konvention ist der erste Menschenrechtsvertrag im europäischen Raum, der jede Form von Gewalt gegen Frauen* – von geschlechtsspezifischer Diskriminierung bis hin zu körperlicher Gewalt, ob zu Hause oder im öffentlichen Raum – als Menschenrechtsverletzung definiert. Seit Februar 2018 ist dieses Völkerrechtsabkommen auch in Deutschland geltendes Recht. Es werden alle unterzeichnenden Staaten zu einem umfassenden und koordinierten Vorgehen verpflichtet.
Das Asylgesetz verpflichtet Frauen* und Mädchen* dazu in Gemeinschaftsunterkünften zu leben und ihre Privatsphäre auf engstem Raum zu teilen. In dieser Position sind sie besonders verletzlich. Sammelunterkünfte sind besonders für geflüchtete Frauen* untragbar.
Auch im Zuge dessen wird u.a. seit Jahren die Errichtung von Sammelunterkünften für Geflüchtete von vielen Frauen*organisationen kritisiert. Sie bieten keinerlei Schutz und Rückzugsmöglichkeiten. Rassistische, sexualisierte und gewalttätige Übergriffe sind keine Seltenheit in Unterkünften. Hinzukommen in den meisten Unterkünften gewisse Abhängigkeitsverhältnisse, die zwischen Geflüchteten und dem Betreuungspersonal herrschen – oft durch mangelnde Kenntnisse der Sprache verschärft.
Mina Amiry, Vorstandsvorsitzende* unserer Mitgliedsorganisation „Integrationslotsen im Landkreis Cloppenburg e.V.“, hebt hervor: „Unter keinen Umständen sollten alleinstehende und alleinerziehende, geflüchtete Frauen* in Sammelunterkünften platziert werden. Sie müssen schnellstmöglich in einer eigenen Wohnung untergebracht werden, in der sie von Sozialarbeiterinnen betreut werden. Nur auf diese Weise kann ein Mindestmaß an Schutz vor Gewalt und Retraumatisierung gewährleistet werden.“
Private, öffentliche oder institutionelle Gewalt geht uns alle an und muss gestoppt werden. Damit sexualisierte und rassistische Gewalt gegen Frauen* mit Migrations- und Fluchtgeschichte endlich auch thematisiert und bekämpft wird, fordert DaMigra Deutschland in der EU-Ratspräsidentschaft dazu auf, Femizide als ein globales Problem zu thematisieren und die folgenden Punkte umzusetzen:
Wir fordern die dezentrale und sicherere Unterbringung von alleinstehende und alleinerziehende geflüchteten Frauen* und ihren Kindern!
Wir fordern die konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention und die zentrale Beteiligung von Migrantinnen*selbstorganisationen am Monitoring-Prozess!
Wir fordern eine konsequente und umfassende mehrsprachige Bekanntmachung von Schutzmechanismen unter migrierten und geflüchteten Frauen* – insbesondere in Unterkünften!
Wir fordern einen diskriminierungsfreien Zugang zu Unterstützungsstrukturen und Frauenhäusern!
Wir fordern die Benennung von Femizid in Medien und Politik – geschlechsspezifische Gewalt muss sichtbar gemacht werden!
Wir fordern eine Reform des Tötungsstrafrechts und die Einführung von Femizid als ein strafverschärfendes Merkmal im Strafgesetz!
Wir fordern eine aussagekräftige statistische Erfassung von Femizid!
Wir fordern die nachhaltige Förderung von migrantischen Begleit-, Beratungs- und Aufnahmestrukturen!
Wir fordern mehrsprachige Kampagnen und Programme mit Fokus auf geschlechtsspezifischer Gewalt gegen migrierte und geflüchtete Frauen*!
Wir fordern finanzielle und langfristige Absicherung der Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen!
Pressekontakt:
Alexandra Vogel
E-Mail presse@damigra.de
Tel. 0178 962 9274
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