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Strukturen durchleuchten: Das Bildungswesen in Deutschland

In dieser Woche widmen wir uns im Rahmen des MigrantinnenMärz dem Bildungswesen in Deutschland – genauer gesagt dem strukturellen Rassismus im Bildungssektor für Menschen und Schüler*innen mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Unsere gesamte Lebensplanung und gesellschaftliche Teilhabe bauen auf Bildung auf. Daher sollte sie für alle Menschen gleich und fair zugänglich sein. Passend zu dieser Thematik fand erst Mitte des Monats – am 14. und 15. März – ein Bildungsgipfel statt, der an Nachlässigkeit kaum zu überbieten war.

Was bisher geschah: Ein kurzer Abriss zum Bildungsgipfel

„Das deutsche Bildungssystem steckt in einer tiefen Krise, die uns alle betrifft“ – so formulierte es Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), die vor zwei Wochen zum Bildungsgipfel einlud. Die Liste aktueller Herausforderungen ist lang: Akuter Lehrer*innenmangel, schleppende Digitalisierung, soziale Spaltung, eine halbe Million junger Menschen ohne Abschluss, Ausbildung oder Arbeit. Was nach einer ausreichenden Motivation für ein längst überfälliges Spitzentreffen klingt, mündete in ein lediglich dreistündiges Treffen am Rande der Bildungsforschungstagung. Konkrete Entscheidungen und Aufbruchstimmung eines Reformprozesses? Fehlanzeige. Das Einbeziehen der Perspektiven von Migrant*innen und geflüchteten Menschen? Auch Fehlanzeige. Rassismuskritische Bildungsangebote? Lassen zu wünschen übrig.

Großes Thema – wie so oft – war auch das Stichwort Chancengleichheit. Die Tatsache, dass der Bildungserfolg noch immer stark von der sozialen Herkunft und einer Migrationsbiografie abhängt, ist mittlerweile wohlbekannt. Auch auf dem Bildungsgipfel beeilte sich Stark-Watzinger zu betonen, dass schulischer Erfolg nicht an die soziale Ausgangsposition gebunden sein dürfe und ein neues „Aufstiegsversprechen“ hermüsse. Viel geändert hat sich daran aber bisher nicht; stattdessen verschärfen sich Bildungsungerechtigkeiten weiter. Wie es tatsächlich um die faire Verteilung von Bildungschancen an (migrierte) Kinder und Jugendliche steht, zeichnet ein trauriges Bild vom Schulsystem.

Wo tritt struktureller Rassismus im Bildungswesen auf?

In einer postmigrantischen Gesellschaft wird die Teilhabe wesentlich durch Bildung beeinflusst. Eine gleichberechtigte Teilhabe im Bildungswesen ist deshalb die Grundlage für gesellschaftliche Partizipation. Wird Kindern durch strukturellen Rassismus der Bildungserfolg nicht gewährt, sinkt damit auch ihre Chance, im Erwachsenenalter in der Gesellschaft eingegliedert zu sein.

Es sind neben Schüler*innen aus sozial benachteiligten Elternhäusern vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in der Schule gegen rassistische Barrieren ankommen müssen. Sie erhalten weniger Chancen, durch angemessene Bildung aufzusteigen, da ihnen ein (Schul-)Abschluss erschwert wird. Kein Wunder, dass der Bildungsstand von Menschen mit Migrationshintergrund unter dem Durchschnitt liegt. Erschreckend sind die Zahlen des Nationalen Bildungsberichts von 2022: In Deutschland haben 39% der jungen Menschen bis 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Ganze 31% der Personen, die vor ihrem Zuzug jünger als 19 waren, haben allerdings keinen beruflichen Abschluss oder die Hochschulreife. Wenngleich die Höherbewertung eines hohen Bildungsniveaus stets unter dem Aspekt von klassistischen Denkweisen betrachtet werden sollte, zeichnet sich ein klares Bild ab.

Diese Zahlen sind das Ergebnis persönlicher Benachteiligungen. Institutionelle Diskriminierungen aufgrund von Herkunft, Religion oder vermeintlicher „Andersartigkeit“ haben immer eine immense Wirkung auf die mentale und körperliche Gesundheit von Betroffenen – ganz besonders im schulischen Umfeld unter Mitschüler*innen und Peer Groups. Die Schule als zentrale Sozialisationsinstanz kann für Kinder und Jugendliche ein besonderer Ort der psychischen Belastung werden, wenn sie dort Rassismus erfahren. Laut einer Studie von Dr. Maya Götz zum Erleben von Alltagsrassismus in Deutschland (2021) erfahren zehn von zehn dunkelhäutigen Kindern Rassismus – 71% der rassistischen Beleidigungen kommen demzufolge von Mitschüler*innen und anderen Kindern und Jugendlichen. Das ist ein enormer Anteil im Schulkontext.

Damit nicht genug, lassen die Ergebnisse der Studie „Vielfalt im Klassenzimmer“ vermuten, dass auch Lehrer*innen Vorbehalte gegen muslimische Schüler*innen haben. Die diskriminierungssensible Aus- oder Fortbildung von Lehrkräften ist hier von besonderer Bedeutung. Eine verpflichtende Schulung zu Anti-Rassismus muss ein Teil dieser Ausbildung sein, die mit einer Prüfung beendet wird. Lehrer*innen müssen lernen, mit heterogenen Schulklassen zu arbeiten, sie müssen für rassistisches, antimuslimisches oder kolonialistisches Lehrmaterial sensibilisiert werden und insbesondere müssen sie sozialpädagogisch geschult werden, wie sie mit Schüler*innen umgehen, die mit Rassismus konfrontiert sind. Es fehlt oft an konkreten Strukturen und Maßnahmen zur Bearbeitung von Diskriminierungsbeschwerden – wie z.B. eine sichere Anlauf- oder Beschwerdestelle mit kompetenten Mitarbeiter*innen.

Aber auch Menschen, die nach Deutschland flüchten und hier Bildungsrechte in Anspruch nehmen möchten, treffen auf diskriminierende Hürden, vor allem bei der Anerkennung ihrer ausländischen Schulabschlüsse. Deshalb fehlen ihnen berufliche Qualifikationen und der Einstieg auf den Arbeitsmarkt wird erschwert. Besonders migrierte und geflüchtete Frauen sind hiervon betroffen. Nicht selten kommen sie aus Ländern, die von Krieg oder Unruhen betroffen sind und die ihnen eine umfassende Bildung verwehren – im Gegensatz zu Männern. Haben sie daraufhin zusätzlich Probleme ihre Abschlüsse hier anerkennen zu lassen, ist ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung kaum möglich. Die Folge? Zum Beispiel die Erwerbstätigkeit in unterbezahlten Care-Berufen oder anderen Niedriglohn-Jobs. Die Benachteiligung im Bildungswesen schlägt sich schließlich auch darin nieder, dass selbst mit hohem Bildungsstand weniger rassifizierte Frauen oder Kinder später in Positionen im Staatsapparat, in der Wirtschaft oder der Politik arbeiten – essenzielle Positionen für eine gleichgestellte Gesellschaft. Aus einer aktuellen Studie des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wissen wir, dass drittstaatsangehörige Frauen nach wie vor seltener am deutschen Arbeitsmarkt partizipieren als zugewanderte Männer und auch seltener als Frauen ohne Migrationshintergrund.

Was braucht ein bildungsgerechtes und antirassistisches Bildungswesen? 

  • Es braucht einen ernstgemeinten Bildungsgipfel mit allen relevanten Vertreter*innen aus Bund, Ländern und Wissenschaft, damit gesamtstaatlich Verantwortung übernommen wird.
  • Es ist wichtig, Lehrer*innen interkulturell zu sensibilisieren und Vielfalt zu fördern, damit Benachteiligungen beseitigt werden und sich Schüler*innen angstfrei an Schulsozialarbeiter*innen und Pädagog*innen wenden können. Dies gibt Eltern und Schüler*innen Handlungssicherheit.
  • Lehrinhalte und Schulmaterialien müssen rassismuskritisch geprüft werden. Erst dann darf eine Vermittlung an Schüler*innen stattfinden. Themen wie (deutsche) Kolonialgeschichte, Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland, Migrations- und Fluchtbewegungen in Europa müssen in die Lehrpläne aufgenommen werden.
  • Es werden schon länger Antidiskriminierungsgesetzte auf Landesebene in Ämtern, Behörden und Schulen gefordert, damit Schutzlücken abgebaut werden. Wir schließen uns dieser Forderung an.
  • Es braucht eine Bildungspraxis mit Lernangeboten, die auf individuelle Lernausgangslangen von Schüler*innen angepasst sind.
  • Geflüchteten und migrierten Frauen muss das Wissen über Bildungsangebote vermittelt werden. Diese Angebote müssen ihnen ermöglichen, Bildung zu erleben, Abschlüsse anerkennen zu lassen oder nachzuholen.

Quellen:

https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/nationaler-bildungsbericht-die-wichtigsten-fakten-zur-bildung-in-deutschland-2022/

https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/Vielfalt_im_Klassenzimmer_final.pdf

BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Infothek – Integration von Migrantinnen in Deutschland

DaMigra e. V. ist die Interessenvertretung von Migrantinnenselbstorganisationen und ihren Belangen und setzt sich für Chancengerechtigkeit, gleichberechtigte Teilhabe und für die Gleichstellung von Frauen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung in Deutschland ein. DaMigra verfolgt den Ansatz des Antirassistischen Feminismus.

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