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Vielfältige Menschen, einfältige Strukturen?

Berlin.01.Oktober 2020. Am Abend des 01.10.2020 werden Berlins Teilhabestrukturen aus der Perspektive marginalisierter Gruppen im Veranstaltungsraum des Berlin Global Village kritisch untersucht.

Anlässlich der Interkulturellen Woche 2020 organisiert DaMigra e.V. die offene Podiumsdiskussion unter dem Titel „Vielfältige Menschen, einfältige Strukturen? Berlin: Die Stadt der Vielfalt aus migrantisch-feministischer Perspektive“.

Unter der Moderation von Ebru Taşdemir werfen Interessierte gemeinsam mit Dr. Soraya Moket, stellvertretende Geschäftsführerin von DaMigra e.V., Maja Loeffler, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Bezirks Marzahn-Hellersdorf und Rafia Shahnaz von Gladt e.V. einen migrantisch-feministischen Blick auf Berlin und beleuchten die sogenannten „Stadt der Vielfalt“ kritisch.
Gleich zu Anfang der Veranstaltung wird der schillernde Begriff der Vielfalt, oft auch in seiner englischen Variante „Diversity“ verwendet, problematisiert. Soraya Moket erläutert:

„Wir sehen durchaus eine große Vielfalt, die sich besonders im Straßenbild widerspiegelt. Diese Vielfalt ist jedoch weder in den Institutionen noch in den Entscheidungsgremien Berlins vertreten. Aber genau dort wird definiert, was Vielfalt strukturell und politisch bedeutet. Definitionsprozesse sind also immer mit Machtfragen verbunden, so dass wir, also beispielsweise migrantische Frauen*, ständig mit unreflektierten Machtstrukturen konfrontiert sind.“

Maja Loeffler führt die mangelnde Vielfalt innerhalb des Vielfaltbegriffs an:
„Häufig wird der Begriff der Vielfalt, vor allem in Berlin, mit migrantischer Vielfalt gleichgesetzt. Klassizistische oder queere Vielfalt beispielsweise werden dabei vernachlässigt, sodass der Vielfaltsbegriff in sich nicht vielfältig ist. Vielfalt ist durchaus ein Begriff mit viel Potential, aber er muss auch kritisch hinterfragt werden“

Das beutet, dass jene Gruppen, die über Definitionsmacht verfügen, letztlich entscheiden wen der jeweiligen Vielfaltsbegriff beinhaltet. Gerade in Berlin fallen dabei Menschen mit Behinderungen, queere Menschen und viele andere Identitäten durch das Raster. Rafia Shanaz gibt allerdings zu bedenken, dass selbst vielfältige Strukturen oft nicht unmittelbar zu einem Machtausgleich führen:
„Auch wenn Menschen, die Vielfalt repräsentieren, in Entscheidungspositionen oder -gremien vertreten sind, stellen sich dennoch weiterhin Fragen wie: Welche Perspektiven werden ernst genommen? Welche müssen erklärt werden und welche nicht? Wer muss von diesen Perspektiven überzeugt werden, damit Ressourcen verteilt werden?“
Diversität gleich Defizit?
Hinzu kommt, dass in Auseinandersetzungen mit Diversität und Vielfalt, sei es in der Gesellschaft, im Bildungsbereich oder auf dem Arbeitsmarkt, noch immer ein Fokus auf das vermeintlich Mangelhafte dominiert. Soraya Moket veranschaulicht diese Dynamik:
„Narrative über Diversität sind defizitorientiert, anstatt ressourcenorientiert. Ein gutes Beispiel ist der komplizierte und langwierige Anerkennungsprozess ausländischer Bildungsabschlüsse, oft auch ohne Erfolg. Dieses Vorgehen ermöglicht es vielen Migrantinnen* nicht, sich beruflich mit ihren bestehenden Qualifikationen zu entfalten und einzubringen. Die Defizitorientierung schlägt sich aber auch im Bildungsbereich nieder. Bestimmte Sprachen werden ungern gehört, sodass vielen Kindern nicht dieselben Entfaltungsmöglichkeiten offenstehen.“
„Auch in den Verwaltungsstrukturen fehlt Wertschätzung für Diversität. Ungeachtet, ob Menschen andere oder sogar mehrere Sprachen fließend beherrschen, das Augenmerk liegt auf dem nicht perfekten Deutsch.“, fügt Maja Loeffler hinzu.
Doch nicht nur in diesen spezifischen Beispielen wird Vielfalt nicht als tatsächliches Potential erkannt, sondern auch die Gesamthaltung gegenüber Menschen, die Vielfalt verkörpern, ist nicht wirklich inklusiv und gleichberechtigt. Rafia Shahnaz veranschaulicht:
„Wir sehen den Kompetenzerwerb nicht innerhalb der Arbeit, sondern außerhalb. Viele Menschen haben ausgezeichnete Kompetenzen und Stärken, aber oft passen sie nicht in das erwartete Profil. Es gibt da wenig Flexibilität. Selbst wenn Teilhabe gewährt und möglich ist, dann nur unter der Bedingung, dass „unser“, also bspw. deutsches, Denken, „unser“ Verhalten und „unsere“ Strukturen übernommen und angeeignet werden.“
Es muss alles neu gewürfelt werden
In Hinblick auf diese starren Denkmuster und noch immer sehr einfältigen Strukturen sagt Soraya Moket: „Es muss alles neu gewürfelt werden!“ und illustriert:
„Vielleicht können wir die Strukturen nicht ganz ändern, aber wir können sie öffnen. Zum Beispiel hinsichtlich der Istanbul Konvention versuchen wir die migrantische Perspektive miteinzubringen. Aber das ist wie eine harte Nuss, trotz der wir nicht aufgeben dürfen. Gerade in unserer Rolle als Lobbyorganisation, wollen und müssen wir laut sein, damit wir etwas verändern können.“
Auch Maja Loeffler beschwört Ausdauer und Beharrlichkeit:
„Die Istanbul Konvention ist sicherlich ein guter Schritt in die richtige Richtung, aber lange nicht ausreichend, hier fehlt wirklich der politische Wille. Trotzdem sind auch unsere Verwaltungsstrukturen nicht starr, sie verändern sich, wenn auch langsam. Aber gerade deswegen brauchen wir Menschen die Vielfalt repräsentieren und Menschen, die sich für eine gelebte Vielfalt einsetzen, die auch den politischen oder beamtlichen Weg gehen.“
Rafia Shahnaz hebt schließlich die Notwendigkeit grundsätzlicher Veränderungen in administrativen Strukturen und gesellschaftlicher Haltung hervor. Eindringlich verdeutlicht Rafia Shahnaz, welche Konsequenzen wirklich gelebte Diversität nach sich zieht:
„Wir haben in Berlin zwar die Möglichkeit, unseren eigenen Tisch zu machen. Und das ist viel wert und ist ein Teil vielfältiger Strukturen. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass Menschen durchaus ihre Positionen aufgeben und Ressourcen abgeben müssen, wollen wir Vielfalt wirklich umzusetzen und gleichberechtigt an einem gemeinsamen Tisch sitzen.“
Die Diskussion auf dem Podium und die anschließende Gesprächsrunde mit den Teilnehmer*innen verdeutlicht: Auch in Berlin, der Stadt der Vielfalt, sind Belange von marginalisierten Gruppen noch nicht ausreichend sichtbar, zu wenig sind sie in den Teilhabestrukturen und Schlüsselpositionen vertreten. Obgleich wir bereits viele erste Schritte gewagt haben und einige Meilensteine erreicht sind, so liegt noch immer ein langer Weg zu vielfältigen Strukturen vor uns. In diesem Sinne müssen wir fortfahren, Raum fundamental neu zu gestalten, um nicht nur Platz für Vielfalt zu schaffen, sondern um wahrhaftig vielfältig zu sein.
Wer ist DaMigra? DaMigra e.V., Dachverband der Migrantinnen*organisationen ist die Interessenvertretung von Migrantinnnen*selbstorganisationen und ihren Belangen. Mit bundesweit über 70 Mitgliedsorganisationen aus unterschiedlichen Herkunftsländern steht der Verband als Ansprechpartnerin für Politik, Wirtschaft und Medien zur Verfügung, bietet Handlungsempfehlungen und kritische Begleitung von migrationspolitischen Prozessen. DaMigra e.V. setzt sich für Chancengerechtigkeit, Gleichberechtigung und für die Gleichstellung von Frauen* mit Flucht- und Migrationsgeschichte in Deutschland ein.

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